Gouache, Tinte, Pigmente mit Naturharzen auf Papier, 58 x 44 cm
Die Sammlung des Aargauer Kunsthauses beherbergt zahlreiche Gemälde und Zeichnungen des Künstlers Louis Soutter (1871–1942), die sein ganzes Schaffen von 1923 bis 1942 abdecken. In der schweizerischen Kunstlandschaft ist Soutter ein Einzelgänger, dessen künstlerisches Hauptwerk vollkommen isoliert während einem zwnzigjährigen Aufenthalt in einem Heim entsteht. Nur wenige erkennen damals die Einzigartigkeit von Soutters Kunst – neben seinem Cousin Le Corbusier (1887–1965) unter anderem der Maler René Auberjonois (1872–1957), die Galeristen Claude und Maxime Vallotton oder der Verleger Henry-Louis Mermod (1891–1962). Erst die vom damaligen Konservator des Lausanner Musée des Beaux-Arts Ernest Manganel (1897–1991) organisierte Retrospektive – eine Wanderausstellung mit Start in Lausanne 1961 – erhebt den Aussenseiter Soutter zwanzig Jahre nach seinem Tod zu einem bedeutenden Schweizer Künstler des 20. Jahrhunderts. Unbestritten ist die hohe Qualität seines intensiven Œuvres, das gleichzeitig aktuell und zeitlos erscheint.
Der in Morges aufgewachsene, vielseitig begabte Soutter beginnt nach abgebrochenen Ingenieur- und Architekturausbildungen 1892 ein Geigenstudium am Konservatorium in Brüssel. Da Soutter aber zwischen Malerei und Musik schwankt, gibt er dieses 1895 auf und studiert Malerei in Lausanne, Genf und Paris. Ab 1897 hält sich Soutter mit Unterbrüchen in den USA auf und kehrt 1904 in einem desolaten geistigen sowie körperlichen Zustand in die Heimat zurück. Ein stetig steigender Schuldenberg und Verhaltensauffälligkeiten veranlassen die Behörden, Soutter unter Vormundschaft zu stellen. Gegen seinen eigenen Willen, aber mit dem Einverständnis seiner Familie wird er in ein Heim im Waadtländer Jura eingewiesen. Dort erst widmet sich der 52-jährige Soutter ausschliesslich dem Zeichnen und erschafft sein gültiges Werk. Manganel unterscheidet drei Perioden in Soutters Œuvre: Den vielfach literarisch inspirierten Zeichnungen in Heften der „Période des cahiers“ (1923–1930) folgt die „Période des dessins maniéristes“ (1930–1937), der sich die mehrheitlich der Figurendarstellung gewidmeten Spätwerke der „Période des planches au doigts“ (1937–1942) anschliessen.
Das vorliegende Sammlungswerk entstammt der letzten Schaffensphase Soutters, die formal von seinem bisher Geschaffenen abweicht. Um 1937 verringert sich Soutters Sehkraft, und er leidet an einer Arthrose der Fingergelenke. Der Künstler wendet sich in der Folge grösseren Formaten zu, beschränkt sich inhaltlich ausschliesslich auf die Figur und lässt das Kleinteilige des Zeichnerischen hinter sich. Soutter entwickelt die Technik, die Tinte direkt mit den Fingern auf den Bildträger aufzutragen. Ihm gelingt, das gleich bleibende Thema – die schreckliche auf sich selbst zurückgeworfene Existenz des Menschen – in aussagekräftige, auf knappste Form reduzierte Darstellung zu bringen. Obwohl der Künstler behauptet, dass der Glaube an Gott ihm nicht mehr möglich ist, identifiziert er sich in „Pauvre cheminot“ mit dem Bild des leidenden Christus und verleiht dem Werk einen zutiefst religiösen Sinn. In den dominierenden Farben Schwarz und Ocker zeigt sich ein Schmerzensmann vor einem mit Linien strukturierten Hintergrund, der Soutters abgemagerte Gesichtszüge, tiefe schwarze Augenhöhlen und eine schwarze Mundöffnung trägt. Ohne der historischen Stilrichtung des Expressionismus oder einer anderen Strömung anzugehören, steigert Soutter den Bildeindruck auf expressive Weise, und mit der Unmittelbarkeit der Fingermalerei gelingt ihm eine äusserst direkte Aussage.
Karoliina Elmer