Öl auf Leinwand, 46.5 x 55.5 cm
Das Œuvre des französischen Malers, Kunsttheoretikers und Schriftstellers Emile Bernard (1868–1941) weist eine grosse stilistische Breite auf: Er erforscht zu Beginn seiner Karriere eine Vielfalt verschiedener Kunstströmungen, bevor er die Stilrichtung des Cloisonismus entwickelt und in seinem Spätwerk zu einer klassizistischen Malerei findet. Das Gemälde „Après-midi à Saint-Briac“ zählt zu den wichtigsten Exponaten der frühen Moderne in der Sammlungspräsentation in Aarau. Zusammen mit bedeutenden Werken anderer französischer Maler wie Gustave Courbet (1819–1877), Camille Corot (1796–1875) und Paul Gauguin (1848–1903) gelangt das Bild 1958 als eines der wichtigsten und umfangreichsten Legate aus dem Nachlass von Dr. Max Fretz in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses.
Bernard erhält erste künstlerische Unterrichtung im Atelier von Fernand Cormon (1845–1924) in Paris, wo er Louis Anquetin (1861–1932) und Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901) kennenlernt. Bereits in jungen Jahren macht Bernard Bekanntschaft mit Vincent van Gogh (1853–1890) und freundet sich bei seinem ersten Besuch 1886 in der Bretagne mit Paul Gauguin (1848–1903) an. Die Halbinsel im äussersten Nordwesten Frankreichs bildet seit den 1830er-Jahren ein bevorzugtes Reiseziel von Künstlern, die in der bäuerlichen, naturverbundenen und religiös geprägten Bevölkerung sowie in den wilden, herben Landschaften frische Impulse für ihr Schaffen finden.
Zusammen mit Anquetin erarbeitet Bernard den sogenannten Cloisonismus, einen Flächenstil mit ungebrochenen Farben, der für ihn charakteristisch werden wird und van Gogh wie auch Gauguin beeinflusst. Mit Letzterem entwickelt Bernard die theoretischen Grundlagen des Symbolismus in der Malerei, auch Synthetismus genannt, und begründet Ende des 19. Jahrhunderts in Abkehr vom Impressionismus eine Künstlergemeinschaft, die später als Schule von Pont-Aven bezeichnet wird.
Die Bildsprache des Cloisonismus leitet sich von der Flächigkeit und Parallelperspektive japanischer Holzschnitte ab, die damals nach Europa gelangen. Bezeichnend für die Gestaltungsweise sind Verzicht auf Volumina und Schatten, Reduktion aller Formen auf einfache Flächen von leuchtenden Farben, die von schwarzen Konturen begrenzt werden. „Après-midi à Saint-Briac“ präsentiert Bernard 1889 unter dem Pseudonym Ludovic Némo an der von Gauguin organisierten ersten Ausstellung der „Groupe Impressioniste et Synthétiste“ im Café Volpini nahe der Pariser Weltausstellung. Es zeugt von Bernards Auseinandersetzung mit den neuen Errungenschaften: In der rechten unteren Bildecke der Küstendarstellung steht eine Frau auf einer diagonal ins Bild ragenden Aussichtsplattform. Sie kehrt dem Betrachter den Rücken zu und lehnt sich an die hölzerne Brüstung. Ihren Blick richtet sie auf den unter ihr liegenden Strand, die ruhige blaue Wasseroberfläche und die sanfte Hügellandschaft am anderen Ufer, die mit klar umrissenen Flächen gestaltet sind. Beim vorliegenden Bild wendet Bernard die Technik „peinture au pétrole“ an, bei der die Ölfarbe mit Petroleum verdünnt wird, um eine gleichmässige, deckende Farbschicht ohne Glanz zu erreichen. Damit gelingt es ihm, die Landschaft auf grosse, flächige Zonen mit scharfen Umrissen zu vereinfachen und einen hohen Grad an Abstraktion zu erlangen.
Karoliina Elmer