Öl auf Leinwand, 72 x 81 cm
Max Pechstein (1881 – 1955) erhält als einziges Mitglied der avantgardistischen expressionistischen Künstlervereinigung Brücke eine klassische künstlerische Ausbildung: Er absolviert erst eine Lehre als Dekorationsmaler und besucht anschliessend die Dresdener Kunstgewerbeschule. Was Pechstein veranlasst, den akademischen Weg zu verlassen, illustriert ein Zusammentreffen mit Erich Heckel, zusammen mit Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff, Begründer der „Brücke“. Für die Internationale Raumkunst-Ausstellung in Dresden malt Pechstein 1906 ein Deckengemälde mit glühend, ja brennend roten Tulpen. Als er kurz vor Ausstellungseröffnung jedoch bemerkt, dass sein intensives Rot mit grauen Spritzern gedämpft wurde, ist er ausser sich. In seinem Unmut bestärkt wird er von einem jungen Mann, Erich Heckel, der genau wie Pechstein auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln und einem neuen Umgang mit Farbe ist und eine Kunst will, die sich nicht durch Konventionen ausbremsen lässt. Pechstein beschliesst, sich der bis dahin ausschliesslich aus Autodidakten bestehenden Gruppierung der Brücke anzuschliessen.
„Das liegende Mädchen“ stammt aus der Zeit, in der die Werke der Brücke-Mitglieder sich gegenseitig, formal und inhaltlich, sehr nahe kommen und sich ein Kollektivstil der Gruppe herauskristallisiert. Das Gemälde gilt heute als Inkunabel des Expressionismus, da es viele der typischen Elemente des Brücke-Stils beinhaltet. Die Bildkomposition wirkt hart und zweidimensional, die Figur liegt quer über die gesamte Fläche, ihre Füsse sind abgeschnitten und der Kopf berührt beinahe den oberen rechten Bildrand. Mit dem dunkelblauen Rock und dem schwarz konturierten Pullover hebt sich der Körper des Mädchens von der in leuchtendem Rot und Orange gestalteten Bettdecke ab. Diese starken Farbkontraste sind nicht zuletzt auf Pechsteins Aufenthalt in Paris von Dezember 1906 bis Herbst 1907 und auf die dortige Begegnung mit der Kunst der Fauves zurückzuführen. Wie bei seinen französischen Kollegen fungiert die Farbe in diesem Gemälde Pechsteins als primäres Gestaltungsmittel und gibt dem Werk seinen unmittelbar sinnlichen Ausdruck.
Das Sujet des jungen Mädchens erfährt sowohl bei Pechstein als auch bei anderen Brücke-Künstlern eine intensive Bearbeitung, so etwa in „Mädchen mit Puppe“ (1910) von Heckel oder in „Artistin Marcella“ (1910) von Kirchner. Dies geht auf den gemeinsamen Aufenthalt der drei Künstler von 1909 an den Moritzburger Teichen nördlich von Dresden zurück, wo ihnen die zwei jungen Mädchen Fränzi und Marcella als ideale, weil natürliche Modelle dienten. In ihrer Farbigkeit annähernd intensiv wie das „liegende Mädchen“ Pechsteins sind jedoch andere Werke, wie Schmidt-Rottluffs „Landschaft mit Baum“ (1913) oder Kirchners „Erna mit Japanschirm“ (1913) zu nennen, die sich beide ebenfalls in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses befinden.
Bettina Mühlebach