
Kohle auf Papier, 200 x 149 cm
Bereits 2013 konnte das Aargauer Kunsthaus dank seiner Mitgliedschaft bei der Schweizerischen Grafischen Gesellschaft eine Druckgrafik von Alain Huck entgegennehmen. Mit dem Ankauf der Kohlezeichnung „Sidéré VIII“ (2021) akzentuiert es sein Engagement für den 1957 in Vevey geborenen Künstler, eine prägende Figur der Westschweizer Kunstszene. Nach seiner Ausbildung an der ECAL (1982–1986) erhielt er umfassende Förderung, allein dreimal das Eidgenössische Kunststipendium. Bereits 1989 begann eine anhaltende Kooperation mit der im selben Jahr gegründeten Galerie Skopia. Parallel dazu brachte Huck mit Gleichgesinnten künstlerische Laboratorien und Begegnungsorte in Gang, darunter den Offspace M/2 in Vevey (1987–1991) sowie 2016 die Projektgalerie locus solus, die von seiner langjährigen Weggefährtin Catherine Monney in ihrem Zuhause im lauschigen Anwesen von Huck in Lausanne, einer ehemaligen Pflanzschule, geführt wird. Diese Kunsträume trugen und tragen massgeblich dazu bei, künstlerische Ansätze sichtbar zu machen, die dem grellen Spektakel der „langen 1980er-Jahre“ eine ästhetisch zurückgenommene, tief reflektierte Kunst entgegensetzen – eine Kunst, in die sich auch Hucks Werk einschreibt.
Auch das Werk „Sidéré VIII“ (2021) zeichnet sich trotz seiner Dimensionen von 200 × 149 cm durch eine organische, fragile Materialität und eine melancholische Präsenz aus. Diese Eigenschaften heben es von reinem Monumentalismus ab. Dies gilt auch für die grösseren oder zu raumfüllenden Installationen formierten Kohlezeichnungen Hucks, die er seit 2006 unter dem generischen Titel „Salons noirs“ zur Verarbeitung der Trauer um seinen 2003 an einem Hirntumor verstorbenen Sohn schafft. Dabei ist die Erzählweise der während der Epidemie 2020 begonnenen Serie durchaus episch, ihr Titel „Sidéré“ bedeutet „bestürzt, erschüttert“. Und die ersten Blätter wurden bereits im Herbst gleichen Jahrs in der Ausstellung „Under the Volcano“ in der Galerie Skopia ausgestellt. Fotorealistisch werden darin drei Idealtypen von Landschaften durchgespielt: aquatische, vegetabile und mineralische. Doch jede gehobene Empfindung, die wir mit diesen Bildgattungen verbinden, wird jedoch gestört, nicht nur durch die Technik mit Hilfe „eingeäscherter Pflanzen“ – so der Künstler. Für den dritten Typ, zu dem „Sidéré VIII“ (2021) gehört, hat Huck keine unberührte Natur mehr als Ausgangspunkt benutzt, sondern Bilder des von ihm während des ersten Lockdowns aufgenommenen Steinbruchs der Baufirma Orlati. Diese bereits symbolkräftige Darstellung einer Disruption hat der Künstler aber nicht, wie in den früheren, horizontalen Beispielen der Serie, durch zwei kleinere oder mittlere Sonnen mit diffusen Höfen durchbrochen, sondern durch eine einzige, riesige, die sich sogar noch über den Rand ausbreitet. Diese „Sonnen“, die auch die Etymologie von „Sidéré“ – vom lateinischen „sidus“, Stern – in Erinnerung rufen, entspringen dem ausgesparten weissen Grund. Diese Konstellation ruft unweigerlich Lars von Triers berühmten Spielfilm „Melancholia“ (2011) in Erinnerung, in dem ein sich der Erde nähernder Himmelskörper Unheil ankündigt – ob als reale Katastrophe oder als Metapher eines inneren Zustands, bleibt dabei bewusst offen. Eine ähnliche Ambivalenz prägt Sidéré VIII: Das gewaltige Lichtgebilde kann als visionäre Offenbarung oder als gleissende Leerstelle gedeutet werden – als Moment der Ungewissheit zwischen Erschütterung und Erkenntnis.
Derartige Überraschungen und Unklarheiten in Hucks Werk sind jedoch immer mehr als ein postmodernes Stilmittel, um das Publikum zum „Hinterfragen“ der Dinge zu provozieren. Sie entsprechen einer brüchigen, sowohl konkreten als auch psychischen Realität. Mit seiner neueren Kunst schafft Huck aus der Erfahrung schwerer Schicksalsschläge und aus einem wachen Bewusstsein für unser aller Los einen Raum, in dem Traumata – persönliche oder gesellschaftliche – gemeinsam betrauert werden können. Doch in „Sidéré VIII“ deutet er auch an, dass ein kreativer Prozess Trost bieten kann. Treten wir nahe an dieses Bild, begegnen wir einer Einladung zum Mitdenken über unseren weiteren Weg – einer „page blanche“.
Katharina Holderegger Rossier, 2025