Öl auf Leinwand, 29.5 x 24.5 cm
Johann von Tscharner (1886–1946) wächst in einer aus dem Graubünden stammenden Familie in Russland auf. 1904 schreibt er sich an der Universität Krakau zum Studium der Philosophie ein und bricht nach einem Jahr ab, um sich an der städtischen Kunstakademie im Fach der Malerei auszubilden. Aufgrund der russischen Revolution und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zieht von Tscharner mit seiner Familie in die Schweiz. 1916 lässt er sich in Zürich nieder, wo er bis zu seinem Tode wohnt. Zürich verfügt damals über ein internationales Flair wie nie zuvor. Politiker, Flüchtlinge und Künstler aller Länder treffen sich im Café Odeon und im Cabaret Voltaire. Interessiert sich von Tscharner zu Beginn seiner Künstlerkarriere noch für aktuelle Kunstströmungen, so wendet er sich mit seiner Rückkehr in die Schweiz vermehrt einer traditionellen Kunst zu. Von den damals aktuellen künstlerischen Tendenzen bleibt er komplett unberührt.
Die Bedeutung des Beitrags, den von Tscharner zur Schweizer Kunst der Zwischenkriegszeit geleistet hat, wird schon früh von Galeristen, Sammlern, Kritikern und Kunsthistorikern erkannt. Die Mäzenin Berta Coninx-Girardet (1884–1966) unterstützt und kauft in den späteren Lebensjahren des Künstlers viele seiner Ölbilder an, die sich heute in der Werner Coninx Stiftung befinden. Der Kunsthistoriker und Professor Gotthard Jedlicka (1899–1965) hat vermehrt auf die Bedeutung des Malers hingewiesen und zu seinem 50. Geburtstag eine erste Monographie verfasst. 1956 ehrt das Kunsthaus Zürich von Tscharner mit einer Gedächtnisausstellung. Seither ist es um den Künstler still geworden.
In seiner Malerei widmet sich von Tscharner der menschlichen Figur und dem meditativen Stillleben. Seine Motive bezieht er hauptsächlich aus der häuslichen Umgebung und seine bevorzugten Modelle sind seine Frau und seine Kinder. Im undatierten Gemälde „Zwei Mädchen“ sind zwei junge Frauen – vermutlich seine Töchter – in einem Interieur dargestellt. Das diffuse Licht lässt die Umrisse der zwei Figuren undeutlich werden. Auch die Gesichter sind nur angedeutet und trotzdem kommt der direkte Blick und die starke Präsenz der zwei Frauen zum Ausdruck. Von Tscharners feinem Farbempfinden zeugt der farbliche Aufbau des Bildes. Die vier Haupttöne Braun, Grün, Rot und Grau dominieren: Dem warmen Braun des Tisches antwortet das satte Grün des flächigen Hintergrunds, das im selben Braun wieder ausläuft. Das Oberteil der sitzenden Frau leuchtet in einem intensiven Rot und steht dem grauen Kleid der an der Tischkante Lehnenden gegenüber. Durch harmonische Ausgewogenheit der Farben und sanftes Dämmerlicht entsteht hier ein empfindsames, atmosphärisches Bild.
Das Unscheinbare zieht sich durch das künstlerische Schaffen von Tscharners. Aus etwas Alltäglichem kreiert er eine kleine eigene Welt. Die einzelne Person (eine Frau, ein Kind) mit ihren kaum erkennbaren Gesichtszügen steht stellvertretend für den Menschen an sich, während das einzelne Objekt (ein Krug, ein Teller) exemplarisch das Objekthafte verkörpert. Das Licht, das die Figuren und Gegenstände umgibt, fasst das Licht der verschiedenen Jahreszeiten und der wechselnden Tageszeiten zu einer gewissermassen allumfassenden, neutralen Lichtquelle zusammen. Die Anonymisierung der Figur, das gedämpfte Licht und das Streben nach einem Gleichgewicht von Farben und Formen verleihen von Tscharners Bildern eine für seine Malerei bezeichnende, zeitlose Aura.
Das Gemälde „Zwei Mädchen“ gehört zu einer grösseren Werkgruppe aus der Sammlung Werner Coninx, die als Dauerleihgabe seit 2016 die Sammlung des Aargauer Kunsthauses bereichert.
Anouchka Panchard